Der Islam, die Moderne und der Westen
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Der Islam, monotheistische Religion par excellence, ist seit Jahrhunderten in verschiedenen Regionen der Welt zu Hause und wird von den verschiedenartigsten Gesellschaften gelebt, für die er das lebendige Erbe der Gemeinschaft bleibt, die sich unbeirrbar einem einzigen, über allem stehenden Gott hingibt.

So umfasst die islamische Welt verschiedene Völker und Staaten; arabische und nicht-arabische, weiße, schwarze und asiatische, die vor Gott alle gleich sind. Sie übertreffen einander nur in der Kraft ihres Glaubens und der Sorgfalt, die sie bei der Einhaltung der religiösen Vorschriften, wie sie vom Koran gelehrt werden, anwenden. Dieser ist das Hauptgebäude und die erste Quelle der Religion, obwohl er nicht ausschließlich alle Fragen beantwortet, die sich den Muslimen stellen. Wenn ein Zitat im Text unvollständig ist, erklärt die Sunna, die die Worte und Taten der Propheten enthält, was vorausgesetzt wird oder Anlass zu Missverständnissen geben kann. Sie legt fest, was allgemein gilt und wird dabei von einer wunderbaren Interpretationsbemühung (Ijtihad) unterstützt, die ebenfalls strengen Regeln und genauen Kriterien unterworfen ist; ohne diese Bemühung wären die muslimischen Gesellschaften tatsächlich vollkommen unbeweglich geworden und seit langem zu einem isolierten Dasein und zur fortschreitenden Sklerose verdammt.


Der Prophet des Islam, Sidna Mohamed, hat in diesem Bereich das grandiose Werk einer inspirierten Botschaft vollendet. Sein Leben ist ein perfektes Beispiel an Demut, Großzügigkeit, Opferbereitschaft und Toleranz, kurz, ein Mann, dessen Leben mit allen Qualitäten ausgestattet war, mit denen Gott in seiner Allmacht einen seiner Erwählten nur ausstatten konnte.


Im XIX. und XX. Jahrhundert haben die Muslime außerordentliche Anstrengungen in verschiedenen Bewegungen in dem Versuch unternommen, die muslimische Gesellschaft und ihre Denkweise zu erneuern, zu modernisieren, anzupassen und in die Zwänge des modernen Lebens zu integrieren, um sie soweit wie möglich mit den Anforderungen einer in steter Bewegung, in ununterbrochenem Wechsel befindlichen Welt in Gleichklang zu bringen.


Die muslimische Gesellschaft sieht sich auch heute noch erheblichen Herausforderungen gegenüber; auf der einen Seite der Moderne mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und dem Siegeszug der Technologie, auf der anderen Seite der Krise der moralischen Werte, des Glaubens und der geistigen Grundlagen.


Die Angriffe der Moderne waren der Anfang eines tiefen Umschwungs, sie haben Lebensweisen aufgezwungen, die bis dahin unbekannt waren. Die alte Ordnung wurde stark in die Enge getrieben und gestört, sowohl in materieller Hinsicht als auch im Bereich der Kultur und der Religion selbst.


Die Moderne, die durch ihren Bezug zur unwiederbringlichen Vergangenheit mit ihren Traditionen, Bräuchen, Mentalitäten, Haltungen und eigenen Visionen bestimmt wird, und gleichzeitig durch ihren Bezug zur Zukunft, mit der sich Fortschritt, Wissenschaft, Technologie und alle Formen der Öffnung und der Veränderung verbinden, verlangt, neue Denkweisen anzuwenden, um von der heutigen Kultur und Wissenschaft effektiv profitieren zu können.
Es geht um die Frage, wie eine schöpferische Umwandlung in der Beständigkeit herbeigeführt werden und die islamische Denkart mit neuen Impulsen versehen werden kann, indem sie für die positiven Kenntnisse von heute geöffnet wird, von denen sie nicht weiter getrennt leben sollte, und dies durch eine Interpretationsanstrengung, die immer schon ein bereicherndes Umfeld für die islamische Kultur und Wissenschaft gewesen ist.


Die religiöse Öffnung ist ihrer Natur nach delikat und schwierig. Da die Religion mit ihren Dogmen, ihrem Ritual und ihrer Eschatologie ein organisiertes Ganzes ist, kann nichts davon aufgegeben werden, ohne sich der Gefahr auszusetzen, sie zu entstellen oder eine neue Religion zu schaffen.
Das religiöse Denken gehorcht nicht derselben Logik wie das wissenschaftliche Denken, es erscheint denjenigen, die es nicht ausüben, manchmal konfus, fremd, primitiv und widersprüchlich.


Die Muslime versuchen, den Islam mit der modernen Welt zu versöhnen und den aggressiven Säkularismus zu vermeiden, von dem die westliche Welt geprägt ist, und gleichzeitig, ihre kollektive Identität zu bewahren, die die Verwurzelung, Kontinuität und Authentizität ihrer Existenz bedeutet.
Sie fürchten die wissenschaftliche und materielle Erneuerung nicht, weisen aber einige der damit einhergehenden destabilisierenden Folgen für die Kultur und das allgemeine Denken zurück. Sie können die Vorstellung nicht akzeptieren, dass die Moderne im Widerspruch zur Religion stehe, und dass der Westen erst nach Zurückweisung aller althergebrachten und vor allen Dingen religiösen Sicherheiten erfolgreich geworden sei. Man entgegnet darauf, dass die westliche Zivilisation immerhin Produkt der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und der dort überwiegend vorherrschenden christlichen Religion sei.


Jegliche Erneuerung wird akzeptiert, wenn sie nicht die Grundlagen der Glaubenssätze und des Glaubens in Frage stellt; die damit einhergehenden Veränderungen, die nicht auf den sicheren Grundlagen der Religion beruhen, werden zurückgewiesen. Man wirft den Muslimen den Gewinn neuer Kräfte im religiösen Leben vor, die missbräuchliche Rückkehr des Heiligen ins tägliche Leben, in gewisser Weise die Eingliederung des Übernatürlichen in die Immanenz. Der Islam wird dabei als globale Ordnung angesehen, die folglich alle zeitlichen und geistlichen Aspekte des Lebens angehe. Die Muslime versuchten also, in einer von der überhandnehmenden Technologie geregelten Welt mit Haltungen zu leben, die von einer Ethik geleitet seien, die sich traditionellen Gesellschaften offenbart habe, die auf den (rückständigen!), von der Religion gelehrten Werten gegründet seien.


Es ist bekannt, dass die Begegnung des Islams mit dem Westen seit langem unter verschiedenen kulturellen, spirituellen, wirtschaftlichen, friedlichen und konfliktträchtigen Aspekten stattfindet.


Die Welt des Islams ist der westlichen Philosophie zum ersten Mal bereits im Mittelalter begegnet; die großen muslimischen Denker haben die griechische Gedankenwelt übersetzt und übernommen, sie günstig aufgenommen und an den Gebrauch im Islam angepasst. Insofern haben sie der Sehnsucht der islamischen Gesellschaft nach Erneuerung und ihrer Tendenz, sich in Richtung des Universellen weiterzuentwickeln, entsprochen. Folglich sehen wir, dass der Islam im allgemeinen, gestern wie heute, sich in keiner Weise als Bewahrer, erstarrt und auf sich selbst zurückgezogen, versteht. Die Muslime unternehmen vielmehr größte Anstrengungen, um das islamische Recht neu zu aktualisieren, zu interpretieren und zu ordnen, ohne den ihm zugrundeliegenden Geist und seine Philosophie zu ändern. Die Moderne ist nämlich nicht gleichzusetzen mit Schlaffheit, Kulturlosigkeit und bedingungslosem Einreihen in ausländische Modelle, in eine importierte kulturelle und religiöse Identität.


Auf der anderen Seite stellen wir leider fest, dass die Beziehungen des Islams zum Westen heute manchmal Zeichen einer gewaltsamen Konfrontation tragen. Der Islam kann nach Ansicht einiger nur gegen die Moderne eingestellt sein, integristisch, fundamentalistisch und ablehnend gegenüber dem wissenschaftlichen Denken - solange die Muslime nicht akzeptierten, das westliche Modell, das ein vollendetes und in seiner kulturellen und zivilisatorischen Perfektion einzigartiges Beispiel darstelle, vollkommen zu übernehmen.


Vielleicht ist der Islam in ihren Augen sogar schuldig, ein anderes Gesellschaftsmodell konstruieren und vorschlagen zu wollen, das in Konkurrenz zu dem im Westen bekannten steht.


Die Muslime, die die materielle Moderne von der intellektuellen und vor allen Dingen religiösen Moderne unterscheiden wollen, die im Sinne einer Versöhnung ihrer Religion, ihrer Kultur und ihrer Gedankenwelt mit dem modernen Leben arbeiten, beklagen sich über eine allgemeine Aggression, die sie in allen geistigen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und sonstigen Bereichen erfahren. Und deshalb wird der Islam für einige zum Refugium in ihrem Kampf um Bewahrung ihrer Identität im Allgemeinen, und der islamischen Identität im besonderen.


Einige Gruppen, die man als islamisch bezeichnet (obwohl ihre gewaltsamen Handlungen den Prinzipien des Islam widersprechen und von der Gesamtheit der muslimischen Länder abgelehnt werden), haben in westlichen Kreisen die Furcht vor dem Islam geweckt und damit die Angst vor der kommunistischen Gefahr ersetzt, die den Westen immer schon beunruhigt hat. Einige Theoretiker haben sogar begonnen, von der islamischen Gefahr zu sprechen, die allerdings durch nichts gerechtfertigt ist.


Aber worauf verweist der Islam in der heutigen Denkweise? Die Antworten können nur zahlreich und unterschiedlich je nach Interessenlage und Vielfalt der Gesichtspunkte sein: auf die arabischen oder die nichtarabischen Staaten, in denen der Islam Staatsreligion ist? Auf die politischen Regime, die sie unterstützen? Auf die Geschichte, die für viele von einer Religion, die gleichzeitig nah und fern ist, "blockiert" ist? Auf die muslimischen Bevölkerungen in der Emigration? Schließlich auf diese relativ verbreitete Vorstellung von einer besitzergreifenden und gefährlichen Religion?


Diese unvernünftige Sichtweise verdeckt die Wirklichkeit des Islams und seine historischen, kulturellen und philosophischen Dimensionen durch eine zu enge Interpretation, die in ihm nur ein kulturelles System sieht, eine Gesamtheit von Glaubensrichtungen und erstarrten Glaubensausübungen, die stereotype soziale Verhaltensweisen hervorruft und von den Gläubigen auch gelebt wird, und die eine Aggressivität aufweist, die man unter Kontrolle halten muss.


Es erscheint uns gefährlich, den Islam in dieser Art und Weise aufzufassen. Man kann die Einzelnen nicht nur auf die Dimension ihrer Gemeinschaft reduzieren, sie zur alleinigen Identifikation mit der Dimension des Glaubens zwingen, ohne sie auf den Weg des Integrismus zu zwingen, der ein Weg der Verweigerungen und des Ausschlusses ist. Diese Darstellung des Islams kann sich in zwei Richtungen entwickeln: entweder verschärft sie die Wahnvorstellungen immer mehr, vervielfacht die Ausschließungsformen, drängt zur Verteidigung, zum Rückzug, oder aber sie ist Anlass, die Universalität der Grundwerte des Islams zu revidieren oder zu prüfen, zum Beispiel das zentrale Konzept der Laizität. Dies würde den Muslimen auch Gelegenheit geben, die Möglichkeiten der Einwirkung auf ihre Religion zur Anpassung in einer fremden Umgebung zu erproben.


Beachten wir in diesem Zusammenhang die im Westen hinsichtlich der Kenntnis des Islams bestehende Kluft zwischen den beiden existierenden Gesellschaften, zum einen der wissenschaftlichen, ohne wirklichen Einfluss ausgestatteten Minderheit, und zum anderen der bürgerlichen Mehrheit, die die meiste Zeit fremden Einflüssen im Bereich der wissenschaftlichen Forschung ausgesetzt ist. Der für den Islam reservierte Platz in den Unterrichtsplänen an Schulen ist weit davon entfernt, Antworten auf die von ihm in den 80iger und 90iger Jahren aufgeworfenen Fragen zu geben, sowohl bei den aus der Emigration hervorgegangenen Jugendlichen als auch bei der gebildeten Bevölkerung europäischer Herkunft.


Um zu dem von Anthropologen, Soziologen, Politologen, Orientalisten und anderen auf wissenschaftlicher Ebene Gesagten zurückzukommen, so stellen wir fest, dass sie lange Gefangene ihrer eigenen analytischen Kategorien waren und die eigentlichen aktuellen Probleme des europäischen Islams ihnen zu einem Zeitpunkt entglitten sind, in dem der Konsens auf der Welt auf dem Respekt der Minderheiten und dem Kampf gegen die Ausgrenzung zu beruhen scheint.


Man kann diesbezüglich leider nicht umhin festzustellen, dass das Gespräch über Orientalistik das ein für den Westen bestimmtes Gespräch des Westens über den Osten ist, manchmal von einigen muslimischen Intellektuellen wie eine Angriffshandlung verloren wird. Sie sind sehr besorgt darüber, selbst Studienobjekt zu sein. Der Westen liest den Osten, interpretiert seine Vergangenheit, führt über ihn und sein Vaterland Forschungen durch und fällt Urteile über seine Kultur, seine Zivilisation und seine Religion unter Zuhilfenahme von Forschungsmethoden und -instrumenten, die der Denkweise des Ostens und des Islams fremd sind.


Deshalb fühlen sich die Intellektuellen bei diesen Studien nicht wohl. Sie haben den Eindruck, als ob diese Studien beabsichtigten, sie ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer Illusionen und ihrer Vorstellungswelt zu berauben; kurz, ein unterdrückerischer Umgang mit Worten, der vergewaltigt und das Objekt seiner Studien verletzt.


So macht sich ein Geist des Misstrauens, der Polemik und des Unverständnisses breit; die gesamten westlichen Ausführungen über den Islam und die islamische Welt wecken Misstrauen und rufen Widersprüche und herbe Kritik hervor. Konstruktive Kritik darf nicht nur die Schwächen sehen und sich bemühen, alle Unzulänglichkeiten in ihren Einzelheiten aufzuzeigen, als ob sie alles wären. Dieser Zustand findet seinen Höhepunkt in dem Anstieg der Integrismen und ihren besonders gewalttätigen Wortbeiträgen.


Gleichzeitig wirft man dem Westen vor, sich im Verlauf der Geschichte als Ursprung jeglicher kulturellen, philosophischen und wissenschaftlichen Aktivität zu sehen, indem betont wird, dass die heutige Zivilisation lediglich die Fortsetzung des griechischen Wunders sei, unter Verleugnung jeglichen anderen Einflusses.


Die anderen Zivilisationen, der Islam zum Beispiel, haben in ihren Augen nichts als ein zweitrangiges Werk vollendet, das das Stadium der Übermittlung, Übersetzung und Interpretation des griechischen Vaterlandes nicht überwunden habe.
Hinzukommen einige Glaubensrichtungen, die zugelassen worden waren, wie tatsächlich wissenschaftlich begründete Theorien im XIX. Jahrhundert, die die Überlegenheit der arischen Rasse und ihre wunderbaren Fähigkeiten unter gleichzeitiger Hervorhebung der Unfähigkeiten der anderen Ethnien, mit der semitischen Rasse an der Spitze.


Es bleibt trotz allem festzuhalten, dass die Orientalistik ein Wissensgebiet und eine Methode ist, die von den Gesellschaftswissenschaften abstammen, bei denen sich die Wahl der Methode im Allgemeinen nicht von Ideologie freisprechen kann. Der Forscher mag das Gegenteil glauben, aber es ist die Wirklichkeit. Er fühlt sich nicht betroffen; er analysiert von außen und kann folglich das fremde System, das er studiert, nicht tiefgehend erfassen.


Man muss trotz allem anerkennen, dass diese Ideen, diese fremdenfeindlichen Theorien - die natürlich nicht so beschaffen waren, dass sie den Nichtwestlichen gefielen, später von der europäischen Wissenschaft selbst widerlegt worden sind. Der Westen hat sie dementiert und sich von ihnen nach den rassistischen Verwüstungen und den Kriegsbränden losgesagt, unter denen er selbst am meisten in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gelitten hat.


Man muss heute befürchten, dass die wissenschaftliche Forschung wegen der Herrschaft der Medien ihre Anforderungen, was Ehrlichkeit und Strenge angeht, zugunsten des Imperativs der Information und der sofortigen Kommunikation opfert. Man muss auch befürchten, dass die Wissenschaft dieselben Themen aufgreift, von denen in den Medien die Rede ist, obwohl die Prinzipien und Analysemethoden in beiden Fällen unterschiedlich sind.
Was in den Medien gesagt wird, ist sicherlich das Meistgelesene, -gehörte, -angeschaute und auf jeden Fall das im kulturellen Raum physisch Präsenteste, und folglich auch geistig in den Köpfen Vorhandene - bis zu dem Punkt, dass die Quasi-Hegemonie der Medien über die anderen Ausführungen eine furchtbare Tatsache ist, die gefürchtetste bei der Verbreitung der Gedanken, der Bilder und der Information. Das in den Medien Gesagte ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, im Allgemeinen für den Islam ungünstig, von dem einen eher negativen Bild vermittelt wird.

Die Präsenz des Islams in Europa erfordert, dass man folgendem Rechnung trägt:
  • einerseits seiner Ansässigkeit, die heute eine unumgehbare Wirklichkeit darstellt, seiner Suche nach Legitimation, einer ebenfalls oft erhobenen Forderung, deren Anerkennung durch die Gastländer nichts als eine seitens der Gesellschaft besser kontrollierte Organisation und Handhabung seiner Bedürfnisse und seiner sozialen, kulturellen und konfessionellen Probleme bedeuten kann. Dies ist für diese Länder eine gute Gelegenheit, sich selbst besser zu verstehen und gleichzeitig das Andersartige besser kennenzulernen,
  • andererseits seiner geographischen Verteilung und der ethnischen und nationalen Heterogenität der muslimischen Bevölkerung in Europa. Es kann keine Eingliederung ohne eine besondere rechtliche Anpassung geben, ohne nationale Gesetzgebungen, die dem Islam erlauben - und das ist für ihn eine Chance - seine Anpassungskraft und seine Entwicklungsfähigkeit zu erproben.

    Von dieser doppelten, unvermeidlichen und definitiv vorhandenen Herausforderung, der Anerkennung des Islam durch Europa und der Fähigkeit des Islams, sich im europäischen Kontext anzupassen, hängt die Zukunft der Beziehungen zwischen beiden ab.

    Welche Vorschläge kann man heute machen, damit diese Herausforderung nicht bei dem einen oder anderen extremste, weil verzweifelte Reaktionen hervorruft?


Es wäre einfach erforderlich, dass die einen wie die anderen mit demselben Einsatz und demselben Willen die notwendigen Anstrengungen darauf ausrichteten, den anderen "ein wenig näher anzuschauen", das heißt, ein wenig eingehender, um ihn besser zu verstehen und durch das Verstehen bereit zu sein, ihn zu akzeptieren und folglich zu respektieren.


Die ganze Zukunft der Begegnung, der zufälligen oder gewollten Interaktion verschiedener Elemente hängt von der vorhandenen oder fehlenden Bereitschaft dieser Elemente ab, anstelle unabhängiger Splittergruppen einen einzigen vielgestaltigen Block zu bilden. In dem speziellen uns interessierenden Fall ist die Bereitschaft zum Verständnis, zur Annäherung, zum Dialog nicht natürlicherweise gegeben, sondern sie resultiert wohl aus der Erziehung und Bildung des Bürgers. Es ist die Bildung im weitesten Sinne, die den Bürger formt, die ihn darauf vorbereitet, sich den Schwierigkeiten des Lebens zu stellen, die Probleme zu lösen, mit den Konflikten gegenüber einem anderen Bürger oder einer Gruppe von Bürgern umzugehen. Durch sie lernt er gleichzeitig mit der Sinnhaftigkeit auch Dialogformen, Verhandlungsführung und Konsensbildung.


Das Bedürfnis nach Erklärung, die Forderung nach Wissenserwerb, die der Islam heutzutage im Westen zum Ausdruck bringt, sowohl von Seiten der aus der Emigration hervorgegangenen Jugendlichen als auch der Bevölkerung westlicher Herkunft, stehen außer Verhältnis zu dem Platz, der dem Islam in den Unterrichtsplänen eingeräumt wird.


Die Bildung stellt den ersten und wichtigsten Sozialisations- und angemessenen Gesprächsort in diesem Bereich dar. Die Schule, die Familie, die Straße und das dortige Geschehen, die Vereinigungen, die Medien, alle nehmen darüber hinaus an der Wissensvermittlung teil, nämlich, das Kind durch zu weiterzugebende Informationen zu erziehen; der Erwachsene nimmt teil, indem er ihm dabei hilft, mit den anderen "zusammenzuleben", sich nicht in seinen Gedanken einzuschließen und sich nicht hinter seinem Glauben zu verschanzen. Es wird also notwendig, die Überlegungen auf dieser Ebene anzustellen und verstärkt zu handeln, um zu vermeiden, dass sich Vorurteile einnisten, dass sich Tendenzen der Überlegenheit und der Dominierung entwickeln, damit nicht "im Kopf" Gedanken und "im Herzen" Gefühle entstehen, die beide zur Intoleranz und zur Ausgrenzung führen.
Die Moderne Bildung muss bei den Bürgern die Motivation hervorrufen, mit anderen Kontakten auf lange Sicht und in einem Raum zu knüpfen, der mit den Grenzen des Planeten verschmilzt. Eines Planeten, auf dem die Grenzen immer weniger geschlossen sind, und wo die Völkerbewegungen schon kulturelle und biologische Mischungen geschaffen haben und politisch vereinte Gesellschaften entstanden sind, selbst wenn sie sprachlich und kulturell heterogen sind.


Nun, wie kann man sich die Zukunft vorstellen?
  • Geht es um Anpassung?
Oder Akzeptieren der Tatsache, dass beide Seiten sich heutzutage in einer Konfliktsituation befinden, in der der Islam fortfährt, seine Legitimität zu fordern, für seine spezifischen Rechte zu kämpfen.
  • Geht es um Integration?
Diese setzt mittelfristig ein Nachlassen der ursprünglichen gesellschaftlichen Bindungen zugunsten eines immer stärkeren nationalen Zugehörigkeitsgefühls voraus.
  • Geht es um Assimilation?
Ein solcher Integrationsprozess würde ganze Generationen Jugendlicher muslimischer Abstammung dazu verleiten, die dominierenden Schemata und kulturellen Verhaltensmuster anzunehmen und jedes Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft der Eltern zu verlieren, der man keine irgendwie geartete Rechenschaft schulden würde.

Man kann leicht nachvollziehen, dass die in Europa lebenden Muslime eher versuchen, sich in die Gesellschaft der Gastländer einzugliedern, in der Überzeugung, dass ein solcher Prozess eine doppelte Vorgehensweise mit sich bringt: ihre eigene und die ihrer Gastländer. Der Gemeinschaft der Muslime obliegt es, sich für ihre Anerkennung mit legalen Mitteln auszustatten sowie mit zulässigen demokratischen Strukturen für ihre Beziehungen zu anderen, insgesamt eine Politik der Eingliederung zu verfolgen, die der Zukunft gewidmet ist, indem sie sich auf die Vergangenheit stützt.


Die Beziehungen zwischen den Muslimen und den Europäern dürfen sich nicht auf einen Konflikt zwischen den Vorschriften des Islams und den Gesetzen des Gastlandes reduzieren. Im Gegenteil, sie müssen als Beziehungen zwischen Gemeinschaften von Menschen angesehen werden, die miteinander so umgehen, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie die einen für die anderen zu sein scheinen. Dabei darf man nicht aus dem Auge verlieren, daß die Muslime Monotheisten sind, deren Religion Toleranz, Großzügigkeit und Respekt lehrt vor dem Anderen, so wie Gott ihn in seiner Weisheit erschaffen hat.

Da die muslimische Welt auf der Suche nach einem Regelstatut für die von ihr erlebten Veränderungen ist und Umwälzungen unterliegt, die sie in den Griff zu bekommen versucht, bleiben folgende hauptsächliche Fragen:
  • Wie soll der Erhalt der dem Islam eigenen Werte gesichert werden, die die Hauptantriebskraft der Religion darstellen?
  • Wie soll der Erhalt der islamischen Kultur in der Vorstellungswelt, der Kreativität und der Sprache gesichert werden?
  • Wie soll eine neue Gesellschaft des Wissens und der Kommunikation geschaffen werden?
  • Wie kann man mit den verschiedenen Zivilisationen und Geisteshaltungen im Frieden, in der Toleranz und im wechselseitigen Respekt leben?
  • Wie kann die Moderne gelebt werden, ohne die eigenen geistigen Werte zu verlieren?
  • Wie kann schließlich und vor allem aus dem Islam ein neuer gedanklicher Entwurf in der heutigen, im permanenten Wandel befindlichen Welt werden?
Die Zukunft des modernisierten Islams im Westen, seine gewünschte Eingliederung hängen gleichzeitig ab von:
  • Der muslimischen Gemeinschaft und ihrer Anpassungsfähigkeit bei ihrer Strukturierung und Institutionalisierung in einem fremden Umfeld sowie ihrer Fähigkeit, auf Darstellungen einzuwirken, die von ihr heute ein negatives Bild abgeben.
  • Von der Fähigkeit der Gesellschaften der Gastländer, die Verschiedenheit der Muslime anzunehmen, indem ihre entsprechenden Werte und ihre Gesetze im Sinne einer größeren Toleranz und zugunsten einer Anerkennung, einer Annahme des anderen und eines notwendigen Zusammenlebens korrigiert werden.
Die Zukunft des Islams zeichnet sich schon in dieser doppelten Herausforderung ab, die sicherlich für die einen wie auch für die anderen die größte Lektion der Zeitgeschichte sein wird, die noch einmal dem Frieden und der Toleranz den Vorzug gegeben haben wird - durch einen konstruktiven, kreativen Dialog zum Wohl der gesamten Menschheit.

Prof. Dr. Dr. Abdelwahab Tazi Saoud, Rektor der Universität Karaouiyine a.D.
Verfasst in den letzen Jahren des vergangenen Jahrhunderts


Alle Rechte vorbehalten
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der DMF-Edition des Deutsch-Marokkanischen Freundeskreises e.V.
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