04.12.2022, 20:14
Eine Nase voll Essaouira
Seit unserem ersten Besuche in Essaouira im Jahr 2016 schwärme ich für die Stadt. Unseren zweiten Aufenthalt hatten wir anlässlich des Gnaoua - Festivals 2018. Da war die Stadt übervoll, an allen Ecken spielten Musiker, es blieb wenig Zeit für den Ort. Diesmal wollen wir Essaouira, der so geschichtsträchtigen Stadt mit all seinen Sehenswürdigkeiten etwas intensiver Zeit widmen, um das Kartenblatt J 10 vorzubereiten.
Es kann nicht nur an unserem Kulturschock liegen - sicher prägt ein langer Aufenthalt im Süden des Landes - Essaouira ist uns plötzlich fremd. Hier scheint man nur noch auf konsumierende, shoppende Touristen eingerichtet zu sein. Die eigentlich schöne Architektur der Medina, die kleinen Details an Türen, originelle Schilder oder winzige Werkstätten - alles geht im Überangebot von Souvenirshops unter. Schade, dass sich Essaouira selbst nur darauf reduziert und anderen Interessen wenig Raum bietet.
Wogen unangenehmer Gerüche - Fisch, Kloake, Gewürze, Müllverbrennung – wehen in Abständen durch die Gassen. Selbst nach seinem Frisörbesuch berichtet Andreas, dass der Barbier streng nach Altöl gerochen hätte.
Von ähnlichen Duft - Erlebnissen erzählte bereits 1889 Joseph Thomson im persönlichen Bericht seiner Erfahrungen über Essaouira (Mogador):
"Eine der einzigartigen Besonderheiten Mogadors - um auf die Prosa zurückzukommen - ist der Besitz eines partiellen Abwassersystems, was bedeutet, dass anstelle des guten alten maurischen Plans, die Abwässer im Freien zu desodorieren und unschädlich zu machen und gelegentlich vom Regen weggespült oder von Aasfressern weggetragen zu werden, sie nun ein ganzes Jahr lang in typhusfördernden Abflüssen entlang der Straßen gesammelt werden, aus denen sie einmal im Jahr herausgeholt werden. ..."
Eigentlich können wir doch froh sein, Essaouira nicht zu Thomsons Zeit besucht zu haben...
Hartnäckig übersehen und überhören wir alle Shopping-Angebote und starten unseren Kultur-Trip. Wer weiß schon, dass es in der Medina Essaouiras zahlose Zaouïas (Glaubensschulen) zu entdecken gibt? Niemand, denn selbst die Tore zu den Innenhöfen, die von Andersgläubigen betreten werden dürfen, bleiben verschlossen. Der christliche Friedhof, außerhalb der Stadtmauer gelegen: verschlossen. Nur ein Blick durch eine vergitterte Pforte ist möglich. Ein Stück weiter beschert uns purer Zufall Eintritt auf den alten jüdischen Friedhof. Vor uns verlässt ihn gerade eine Gruppe Israelis, schnell schlüpfen wir vorbei an den leicht mürrischen Blicken der forces auxiliaires und drehen eine Runde. Auch hier - wie in Marrakech - weiß getünchte Gräber dicht an dicht. Eine Besonderheit entdecken wir: auf einigen der sonst sehr schlichten Grabsteine sind eingemeißelte menschliche Umrisse erkennbar. In der Mitte des Friedhofs befindet sich erhöht die Grabstätte von Rabbi Haïm Pinto, der 1845 starb. Auf unsere Frage, ob wir auch den gegenüberliegenden (verschlossenen) neuen jüdischen Friedhof besuchen dürfen, antworten uns die Ordnungskräfte "natürlich!", steigen in ihr Auto und fahren weg. Irritiert beginnen wir uns zu fragen, ob man historisch-interessierte Touristen in Essaouira wünscht?
Acht ehemalige Konsulate im 19. Jahrhundert zeugten von historischen Handelsbeziehungen, die der Stadt einen cosmopolitischen Charakter verliehen und auch heute noch anziehend wirken, wenn man sie gezielt sucht. Wir finden an der Hauswand des ehemaligen französischen Konsulats eine Tafel, die darauf hinweist, dass Charles der Foucauld am 28. Januar 1884 hier gewesen ist. Er kam während seiner Expedition durch Marokko zu Fuß aus Tissint, nur um in Mogador Post aufzugeben und auf die Antwort zu warten! Von weiteren Konsulaten finden wir ehemals prächtige Eingangsportale, jedoch - bis auf zwei - ohne Hinweise auf die Vergangenheit.
Der Mellah, einem heute leider sehr verfallenen Bereich Essaouiras hat auch Joseph Thomson bereits einen Besuch abgestattet:
"...schlendert der europäische Reisende durch das Tor, das den Eingang zu einer schmalen Straße gibt, die offensichtlich in das Herz des Viertels führt und sich in ein rätselhaftes Netzwerk von blinden Gassen und Gässchen verzweigt.
Ein wenig von der Mellah genügt; aber der Reisende, wenn er nicht von einem Führer begleitet wird, verliert sich schnell in dem Labyrinth und gerät immer tiefer in den ekelerregenden, ununterbrochenen Misthaufen, über den er stapfen oder waten muss. ..."
Den Misthaufen gibt es heute nicht mehr, dafür findet man ein großes Ruinenfeld. Immerhin ist die Haïm Pinto - Synagoge restauriert, steht Besuchern offen, auch eine Talmudschule kann besucht werden. Hinweisschilder sucht man jedoch vergeblich. Wer in die Mellah will, muss schon wissen, wonach er sucht, sonst verlässt er sie recht erschüttert.
Zwei Lichtblicke beschert uns Essaouira dennoch. Wir suchen den außerhalb der Stadt gelegenen Leuchtturm in der Nähe von Sidi Kaouki. Als der Asphalt endet, beschließen wir, die letzten Kilometer auf der Sandpiste zu laufen. Bei straffem Gegenwind haben wir arg zu kämpfen. Als der Leuchtturm endlich auftaucht, beschleicht uns leise Enttäuschung, es wird gebaut. Aber wir geben nicht auf, fragen einen Arbeiter, der an der Treppe zur Turmspitze die Stufen weghackt, ob wir hineindürfen. Hilfsbereit räumt er einige Bretter aus dem Weg, so dass wir "nur" über Bauschutt, der sich auf den Stufen türmt, aufwärts klettern müssen. Dann folgen mehrere sehr enge Stahlleitern und plötzlich stehen wir in der Turmspitze vor den riesigen Fresnel Glaslinsen. Nur mit einer einfachen Glühbirne als Lichtquelle dienen sie seit 1917 den Seefahrern mit einer Leuchtweite von 33,7 km als Signal. Unterhalb entdecken wir die monumentale Technik, die für die Rotation verantwortlich ist. Mehr abwärts rutschend als gehend verlassen wir den Turm und haben noch lange auf dem Rückweg Gesprächsstoff über dieses beeindruckende historische Denkmal.
Fresnel Linse im Leuchtturm Sidi Kaouki
Zurück in Essaouira finden wir am Nachmittag auf der Suche des italienischen Konsulats ein Haus, in dem heute eine Galerie eingerichtet ist. Als der Galerist unser Interesse bemerkt, kommen wir mit ihm, der gleichzeitig heutiger Besitzer des Hauses ist, ins Gespräch. Bereitwillig führt er uns in seine über der Galerie gelegene Wohnung, die er sehr geschmackvoll regelrecht künstlerisch gestaltet hat. Erstaunlich, wenn man in den schön restaurierten Räumen seinen Erzählungen lauscht, in welchem Zustand er das Haus vor gut 20 Jahren erworben hat.
So fahren wir ohne Wehmut von Essaouira weiter und überlegen noch immer, welche touristischen Sehenswürdigkeiten wir eigentlich außer der Bastion und dem Hafen auf einer Karte von Essaouira darstellen könnten...
Zitate aus: Joseph Thomson: Travels in the Atlas and Southern Morocco : a narrative of exploration 1889
Seit unserem ersten Besuche in Essaouira im Jahr 2016 schwärme ich für die Stadt. Unseren zweiten Aufenthalt hatten wir anlässlich des Gnaoua - Festivals 2018. Da war die Stadt übervoll, an allen Ecken spielten Musiker, es blieb wenig Zeit für den Ort. Diesmal wollen wir Essaouira, der so geschichtsträchtigen Stadt mit all seinen Sehenswürdigkeiten etwas intensiver Zeit widmen, um das Kartenblatt J 10 vorzubereiten.
Es kann nicht nur an unserem Kulturschock liegen - sicher prägt ein langer Aufenthalt im Süden des Landes - Essaouira ist uns plötzlich fremd. Hier scheint man nur noch auf konsumierende, shoppende Touristen eingerichtet zu sein. Die eigentlich schöne Architektur der Medina, die kleinen Details an Türen, originelle Schilder oder winzige Werkstätten - alles geht im Überangebot von Souvenirshops unter. Schade, dass sich Essaouira selbst nur darauf reduziert und anderen Interessen wenig Raum bietet.
Wogen unangenehmer Gerüche - Fisch, Kloake, Gewürze, Müllverbrennung – wehen in Abständen durch die Gassen. Selbst nach seinem Frisörbesuch berichtet Andreas, dass der Barbier streng nach Altöl gerochen hätte.
Von ähnlichen Duft - Erlebnissen erzählte bereits 1889 Joseph Thomson im persönlichen Bericht seiner Erfahrungen über Essaouira (Mogador):
"Eine der einzigartigen Besonderheiten Mogadors - um auf die Prosa zurückzukommen - ist der Besitz eines partiellen Abwassersystems, was bedeutet, dass anstelle des guten alten maurischen Plans, die Abwässer im Freien zu desodorieren und unschädlich zu machen und gelegentlich vom Regen weggespült oder von Aasfressern weggetragen zu werden, sie nun ein ganzes Jahr lang in typhusfördernden Abflüssen entlang der Straßen gesammelt werden, aus denen sie einmal im Jahr herausgeholt werden. ..."
Eigentlich können wir doch froh sein, Essaouira nicht zu Thomsons Zeit besucht zu haben...
Hartnäckig übersehen und überhören wir alle Shopping-Angebote und starten unseren Kultur-Trip. Wer weiß schon, dass es in der Medina Essaouiras zahlose Zaouïas (Glaubensschulen) zu entdecken gibt? Niemand, denn selbst die Tore zu den Innenhöfen, die von Andersgläubigen betreten werden dürfen, bleiben verschlossen. Der christliche Friedhof, außerhalb der Stadtmauer gelegen: verschlossen. Nur ein Blick durch eine vergitterte Pforte ist möglich. Ein Stück weiter beschert uns purer Zufall Eintritt auf den alten jüdischen Friedhof. Vor uns verlässt ihn gerade eine Gruppe Israelis, schnell schlüpfen wir vorbei an den leicht mürrischen Blicken der forces auxiliaires und drehen eine Runde. Auch hier - wie in Marrakech - weiß getünchte Gräber dicht an dicht. Eine Besonderheit entdecken wir: auf einigen der sonst sehr schlichten Grabsteine sind eingemeißelte menschliche Umrisse erkennbar. In der Mitte des Friedhofs befindet sich erhöht die Grabstätte von Rabbi Haïm Pinto, der 1845 starb. Auf unsere Frage, ob wir auch den gegenüberliegenden (verschlossenen) neuen jüdischen Friedhof besuchen dürfen, antworten uns die Ordnungskräfte "natürlich!", steigen in ihr Auto und fahren weg. Irritiert beginnen wir uns zu fragen, ob man historisch-interessierte Touristen in Essaouira wünscht?
Acht ehemalige Konsulate im 19. Jahrhundert zeugten von historischen Handelsbeziehungen, die der Stadt einen cosmopolitischen Charakter verliehen und auch heute noch anziehend wirken, wenn man sie gezielt sucht. Wir finden an der Hauswand des ehemaligen französischen Konsulats eine Tafel, die darauf hinweist, dass Charles der Foucauld am 28. Januar 1884 hier gewesen ist. Er kam während seiner Expedition durch Marokko zu Fuß aus Tissint, nur um in Mogador Post aufzugeben und auf die Antwort zu warten! Von weiteren Konsulaten finden wir ehemals prächtige Eingangsportale, jedoch - bis auf zwei - ohne Hinweise auf die Vergangenheit.
Der Mellah, einem heute leider sehr verfallenen Bereich Essaouiras hat auch Joseph Thomson bereits einen Besuch abgestattet:
"...schlendert der europäische Reisende durch das Tor, das den Eingang zu einer schmalen Straße gibt, die offensichtlich in das Herz des Viertels führt und sich in ein rätselhaftes Netzwerk von blinden Gassen und Gässchen verzweigt.
Ein wenig von der Mellah genügt; aber der Reisende, wenn er nicht von einem Führer begleitet wird, verliert sich schnell in dem Labyrinth und gerät immer tiefer in den ekelerregenden, ununterbrochenen Misthaufen, über den er stapfen oder waten muss. ..."
Den Misthaufen gibt es heute nicht mehr, dafür findet man ein großes Ruinenfeld. Immerhin ist die Haïm Pinto - Synagoge restauriert, steht Besuchern offen, auch eine Talmudschule kann besucht werden. Hinweisschilder sucht man jedoch vergeblich. Wer in die Mellah will, muss schon wissen, wonach er sucht, sonst verlässt er sie recht erschüttert.
Zwei Lichtblicke beschert uns Essaouira dennoch. Wir suchen den außerhalb der Stadt gelegenen Leuchtturm in der Nähe von Sidi Kaouki. Als der Asphalt endet, beschließen wir, die letzten Kilometer auf der Sandpiste zu laufen. Bei straffem Gegenwind haben wir arg zu kämpfen. Als der Leuchtturm endlich auftaucht, beschleicht uns leise Enttäuschung, es wird gebaut. Aber wir geben nicht auf, fragen einen Arbeiter, der an der Treppe zur Turmspitze die Stufen weghackt, ob wir hineindürfen. Hilfsbereit räumt er einige Bretter aus dem Weg, so dass wir "nur" über Bauschutt, der sich auf den Stufen türmt, aufwärts klettern müssen. Dann folgen mehrere sehr enge Stahlleitern und plötzlich stehen wir in der Turmspitze vor den riesigen Fresnel Glaslinsen. Nur mit einer einfachen Glühbirne als Lichtquelle dienen sie seit 1917 den Seefahrern mit einer Leuchtweite von 33,7 km als Signal. Unterhalb entdecken wir die monumentale Technik, die für die Rotation verantwortlich ist. Mehr abwärts rutschend als gehend verlassen wir den Turm und haben noch lange auf dem Rückweg Gesprächsstoff über dieses beeindruckende historische Denkmal.
Fresnel Linse im Leuchtturm Sidi Kaouki
Zurück in Essaouira finden wir am Nachmittag auf der Suche des italienischen Konsulats ein Haus, in dem heute eine Galerie eingerichtet ist. Als der Galerist unser Interesse bemerkt, kommen wir mit ihm, der gleichzeitig heutiger Besitzer des Hauses ist, ins Gespräch. Bereitwillig führt er uns in seine über der Galerie gelegene Wohnung, die er sehr geschmackvoll regelrecht künstlerisch gestaltet hat. Erstaunlich, wenn man in den schön restaurierten Räumen seinen Erzählungen lauscht, in welchem Zustand er das Haus vor gut 20 Jahren erworben hat.
So fahren wir ohne Wehmut von Essaouira weiter und überlegen noch immer, welche touristischen Sehenswürdigkeiten wir eigentlich außer der Bastion und dem Hafen auf einer Karte von Essaouira darstellen könnten...
Zitate aus: Joseph Thomson: Travels in the Atlas and Southern Morocco : a narrative of exploration 1889
Barbara & Andreas
marokko-erfahren.de
marokko-erfahren ist eine unabhängige europaweite Privatinitiative zur Förderung von Beschäftigung und Kulturerhalt.
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