Das Geschenk des Sultans
#1
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Es war einmal, vielleicht aber auch nicht - ein Sultan in Marrakesch, Ahmed der Goldene, dessen Ruhm weit über die Grenzen des scherifischen Kaiserreichs hinaus reichte. Unermesslich waren sein Reichtum und seine Machtfülle. Man nannte ihn „Ahmed den Goldenen“, weil seine königliche Schatulle, wie man sich auf allen Märkten des Landes hinter vorgehaltener Hand erzählte, bis zum Rand mit Gold gefüllt war. Sein Glanz und Ruf war weit über die Landesgrenzen hinaus gedrungen, und alle fürstlichen Herrscher in den Nachbarländern, aber auch die im fernen Orient, suchten seine Freundschaft. Pausenlos trafen Botschafter mit Grußbotschaften am Hof von Marrakesch ein. Bei dieser Gelegenheit überreichten die adligen Gesandten dem Sultan wertvolle Geschenke ihrer Herrscher, auf dass sich der Ruhm von Ahmed dem Goldenen weiterhin mehre.

Im alten Sudan lebte ein König, der als Zeichen seiner Unterwerfung dem Sultan von Marrakesch einen riesigen Elefantenbullen zum Geschenk machte. Unser Sultan, Ahmed der Goldene, war über das ungewöhnliche Geschenk hocherfreut und übergab den Dickhäuter einem sesshaft gewordenen Beduinenstamm, der seine Zelte für immer in der Nähe von Marrakesch aufgeschlagen hatte. Die Treue und Ergebenheit des Nomadenstammes zum Sultan war im ganzen Land bekannt. Er ließ den Stammeschef, einen hoch angesehenen Scheich, zu sich rufen: „Unser Freund, der König des Sudans, hat uns einen herrlichen Elefanten zum Geschenk gemacht. Wir haben großes Vertrauen zu dir und deinen Stammesbrüdern. Aus diesem Grunde haben wir nach reiflicher Überlegung beschlossen, dir das kostbare Tier anzuvertrauen.“


Der dem Sultan treu ergebene Stammesführer erging sich in unaufhörliche Danksagungen und Segenswünsche für die königliche Gunst, küsste die Hand des Monarchen und zog sich in ehrerbietiger Haltung zurück. Der Scheich befahl dem Elefantenführer, das Tier bis zum Gebiet seines Stammes zu begleiten und bat ihn, in seine Dienste zu treten.


Die Nomaden aber lebten in verschiedenen Dörfern, die über das ganze Stammesgebiet verstreut hinter hohen Dünen lagen. Die kargen Erträge, die sie aus der Landwirtschaft und der Viehzucht erwirtschafteten, waren bescheiden. Sie konnten nur mit Mühe ihre Kinder satt bekommen.
Trotz der Bürde, die die Pflege des scherifischen Elefanten ihnen auflastete, kamen sie gerade so über die Runden. Für den Elefanten und seinen sudanesischen Betreuer musste jedes Stammesmitglied ein paar Rial berappen, zumal es sich als notwendig erwies, ein Stück Weideland einzuzäunen. Erschwerend kam hinzu, dass niemand wusste, woher die Beduinen die finanziellen Mittel für den Bau einer Elefantenhütte und für den Lohn des Elefantenführers nehmen sollten. Jeden Tag wurde eine Familie beauftragt, für die täglichen Mahlzeiten des Elefantenführers zu sorgen. Für das Futter des Elefanten, der einen enormen Appetit an den Tag legte, musste jedes Stammesmitglied noch vor dem Morgengebet auf die Weide ziehen und mit der Sichel Gras und Buschwerk mähen. Zum Transport des Futters musste der Stamm darüber hinaus ein Maultier anschaffen.


Und so blieb es nicht aus, dass auf den Weideflächen in der ganzen Region bald kein Grashalm mehr spross. Erste Nomadenfamilien sahen sich gezwungen, ihre Sesshaftigkeit wieder gegen das unstete Umherwandern, wie die Beduinen des Stammes es in früheren Zeiten gewohnt waren, einzutauschen. Und so entfernten sie sich von ihren Hütten, um Futter für den unersättlichen Elefanten aufzutreiben. Bald waren auch die letzten, weit entfernt liegenden Weiden abgerast, und jetzt blieb ihnen nichts weiter übrig, als dem grauen Ungeheuer ihre Getreidefelder zu überlassen, die sie mühsam der Steppe abgerungen hatten. Mit Tränen in den vom Sand geröteten Augen sahen sie zu, wie sich ihre Felder in Wüste verwandelten. Stumm litten sie. Doch bald gelang es ihnen nicht mehr, ihre Kinder zu ernähren.


Not und Elend machten sich breit, und die Felder färbten sich von einem Tag zum anderen löwenfellgelb. Die Ziegen und Kühe gaben kaum noch Milch. Die Frauen konnten keine Butter mehr herstellen und die irdenen Krüge für die berühmte Nomadenbutter, die bei den Bewohnern von Marrakesch besonders im Fastenmonat Ramadan zur Zubereitung der Harira-Suppe begehrt ist, füllten sich mit Treibsand. Die Arbeit auf den Feldern war zum Erliegen gekommen, da nichts mehr gedieh, und der Hunger hielt Einzug bei dem Beduinenstamm. Schließlich empörten sich die Stammesfürsten und äußerten öffentlich ihren Missmut. Sie begaben sich zu ihrem Scheich und klagten ihm ihr Leid. Dem Scheich war ihre Not nicht entgangen. Er schlug den Notablen vor, eine Abordnung zum Sultan zu entsenden, um Seine Majestät zu bitten, den Elefanten in die Obhut eines anderen Stammes zu geben. Die Weisesten der Weisen wurden ausgesucht. Sie sollten dem Sultan ihre Anliegen mit diplomatischem Geschick vortragen und darauf achten, den Sultan auf keinen Fall zu verärgern. Bereits am nächsten Tag reiste die Abordnung in Richtung Marrakesch. Die Mitglieder der Delegation hatten sich herausgeputzt. Sie trugen traditionelle Burnusse aus Schafswolle, himmelblaue Ganduras, wallende, weite, knöchellange Umhänge, weiß leuchtende Turbane und zitronengelbe Babuschen.


Nach einer Tagesreise erreichte die kleine Karawane den Sultan
spalast. Ahmed der Goldene hatte die Beduinen schon von weitem gesehen. Sie wurden vom königlichen Zeremonienmeister empfangen. Dieser führte sie umgehend zum Sultan, der voller Ungeduld wartete.

Um sich gegenseitig Mut zu machen, hatten die Beduinen vereinbart, dem Sultan ihr Ansinnen gemeinsam vorzutragen. Jetzt, da sie vor dem mächtigsten Monarchen des Maghreb standen, verneigten sie sich ehrfurchtsvoll, wie es das Hofzeremoniell vorschreibt, und sprachen im Chor die Grußformel: „Gott möge das Leben unseres Herrschers schützen.“ Die Beduinen ließen sich im Schneidersitz auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden nieder, selbstverständlich in respektvoller Entfernung von dem Erlauchtesten aller Erlauchten. Im Angesicht des mächtigen Sultans, der sie wohlwollend anlächelte, erstarrten sie in großer Ergriffenheit. Niemand wagte es, das Wort zu ergreifen.

Um dem peinlichen Schweigen ein Ende zu bereiten, nahm einer von ihnen seinen ganzen Mut zusammen und hob stotternd an: „Ma-ma-ma-jestä-tät, der, der Ele-le-le-fant…“ Weiter kam er nicht. Der Sultan neigte sich vor, und um seine nomadischen Gäste aus ihrer Verwirrung zu befreien, erkundigte er sich nach ihren Familien, und als er sah, dass sie sich immer noch nicht wohl in ihrer Haut fühlten, sagte er vieldeutig lächelnd: „Ihr seid sicherlich gekommen, um mir mitzuteilen, dass der Elefant sich langweilt, schließlich ist er ja ganz allein. Zweifellos braucht er eine Elefantenfrau. Nun gut, dem kann abgeholfen werden. Ich werde den Befehl erteilen, dass sofort Ausschau nach einer Lebensgefährtin für den armen Elefantenmann gehalten wird.“ 


Den Beduinen fuhr der Schreck in die Glieder. Sie starrten den Sultan mit offenen Mündern an. Ahmed der Goldene beruhigte sie und versicherte ihnen, dass sie schon bald eine Elefantenfrau erhalten würden. Er entließ sie gnädig, nicht ohne ihnen vorher für ihre Treue und ihren Eifer gedankt zu haben.

Aus „Märchenhaftes Marokko“ von Mourad Kusserow
http://www.kinzelbach-verlag.de  
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