Jugendproteste GenZ 212
#1
Zur Zeit finden in vielen größeren Städten Proteste von jungen Leuten statt, die sich unter dem Kürzel GenZ 212 (nach der internationalen Telefonvorwahl) zusammengeschlossen haben. Leider teilweise auch mit Ausschreitungen. 

https://www.moroccoworldnews.com/2025/09...ect-riots/

Es geht um die Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens und des Bildungssystems, während Unsummen in neue Sportstätten für die Fußball-WM 2030 investiert werden. 

Hier das Manifest: https://genz212.com/
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#2
Hallo, 
es geht nicht nur um Arbeitslosigkeit, staatliche Unterstützung oder den Kampf gegen Korruption. Das ist alles schön und gut. Das Interessante daran ist: Mit Gewalt wird man kaum etwas erreichen – im Gegenteil. Polizeifahrzeuge zu zerstören, Steine zu werfen, Beamte zu verletzen und Geschäfte zu plündern wird die Lage nur weiter eskalieren lassen.
MfG

Marco Wensauer
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#3
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika...n-100.html

Ich hab das heute morgen gelesen. Was sagen marokkanische Medien und vielleicht französische? Was bekommt ihr in Marokko davon mit? Wie ist eure Einschätzung der Lage?
Du musst nicht immer alles glauben was du denkst.
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#4
Ich versuche gerade, von einem Freund in Fes Näheres zu erfahren. Die Videos, so sie echt sind, beunruhigen mich sehr!
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#5
Hallo, 

von den anfänglichen Protesten gegen Korruption, gegen die Gesundheitsversorgung und so weiter hat sich das Ganze in Richtung Vandalismus, Plünderungen und reine Zerstörungswut entwickelt.
Praktisch gesehen sind die Proteste passé – stattdessen nimmt man sich nun das Recht heraus, zu zerstören und zu plündern, wann immer man möchte.

Es ist schon mit einer gewissen Ironie verbunden, dass man gegen Korruption protestiert und dabei selbst das Gesetz korrumpiert. Denn es geht ja nicht per se um Korruption, sondern nur um jene Korruption, von der der Protestierende nicht profitiert.

Sein vermeintliches Recht, mit einem nicht gesetzeskonformen Moped, ohne Helm und im besten Fall noch ohne Versicherungsschutz zu fahren, soll dann bitte ausgeklammert werden – denn das wäre ja nicht im Sinne der Protestierenden.

Diese jungen Leute sind nicht bereit, etwas zu leisten, fordern jedoch – und das nicht zu knapp – ein bequemes Leben. Diese Leistungen soll der Staat erbringen.
Der Staat kann jedoch nicht per se die Arbeitsleistung übernehmen. Die Faulheit unter jungen Leuten hat zugenommen, und viele glauben mit 22 Jahren, ihr Platz sei bereits in einer leitenden Position – ganz ohne Berufserfahrung.

Was ebenfalls sehr interessant ist: Unter den Vandalen befinden sich auffallend viele Minderjährige – und das mitten in der Nacht.
Da muss ich immer wieder lachen, wenn die Uhrzeit umgestellt wird und sich Eltern darüber beschweren, dass ihre Kinder im Morgengrauen nicht zur Schule gehen können, weil es noch nicht hell genug ist.

Aber nachts scheint es offenbar nicht zu dunkel zu sein, um zu randalieren.

Ja, das ist Marokko – live, in Farbe und bunt.
MfG

Marco Wensauer
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#6
Leider hat es bei den Protesten jetzt auch Tote gegeben. Demonstranten versuchten eine Polzeistation zu stürmen, wobei die Polizisten zur Waffe griffen: https://www.bbc.com/news/articles/cgrqpekyxpvo
Einige Forderungen der Protestierenden finde ich schon gerechtfertigt, so wurden in Casablanca und Rabat für mehrere Milliarden Dirham zwei neue Theater gebaut. Beide stehen seit Jahren leer, es gab bis heute keine einzige öffentliche Vorstellung. Andererseits gibt es in den meisten Städten immer noch keine geordnete Müllentsorgung, die Abfälle werden auf Deponien gekippt oder unkontrolliert verbrannt, wobei sie Luft und Wasser verpesten.

Dass Randalierer die Demonstrationen für ihre Zwecke kapern ist traurig, kommt aber auch in Deutschland vor.
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#7
(03.10.2025, 16:27)Mike schrieb: Leider hat es bei den Protesten jetzt auch Tote gegeben. Demonstranten versuchten eine Polzeistation zu stürmen, wobei die Polizisten zur Waffe griffen: https://www.bbc.com/news/articles/cgrqpekyxpvo
Einige Forderungen der Protestierenden finde ich schon gerechtfertigt, so wurden in Casablanca und Rabat für mehrere Milliarden Dirham zwei neue Theater gebaut. Beide stehen seit Jahren leer, es gab bis heute keine einzige öffentliche Vorstellung. Andererseits gibt es in den meisten Städten immer noch keine geordnete Müllentsorgung, die Abfälle werden auf Deponien gekippt oder unkontrolliert verbrannt, wobei sie Luft und Wasser verpesten.

Dass Randalierer die Demonstrationen für ihre Zwecke kapern ist traurig, kommt aber auch in Deutschland vor.

Hallo, 

solche Bauten gibt es überall im ganzen Land. In Marrakesch steht ein neuer Busbahnhof – seit über fünf Jahren fertiggestellt.
Nachdem der Busbahnhof fertig war, stellte man fest, dass die Infrastruktur den Verkehr gar nicht bewältigen kann. Seitdem steht der neue Busbahnhof leer.
Solche Beispiele gibt es unzählige, über das ganze Land verteilt.

Eine Polizeistation zu überfallen, um an Waffen zu gelangen, und dabei mit Messern und Macheten bewaffnet auf Beamte loszugehen – das geht natürlich zu weit.
Bedauerlicherweise hat das zu mehreren Todesfällen geführt.

Eine geordnete Müllentsorgung existiert nicht – das ist Ansichtssache. Oft werfen die Leute den Müll, sofern möglich, auf ein leeres Grundstück und zünden ihn an: weil es einfacher ist, weil der Müllcontainer in unzumutbaren 100 Metern Entfernung steht. Das beobachte ich schon seit über 15 Jahren.

Leider kann man abends nicht mehr ausgehen, ohne befürchten zu müssen, von Vandalen verletzt zu werden oder dass einem das Moped oder Auto in Brand gesteckt wird.

Dieses Jahr wollte der Staat gegen die Tausenden von nicht gesetzeskonformen Mopeds mit Kontrollen vorgehen.
Was war das Resultat? Es gab Proteste – und eine Schonfrist von einem Jahr.
Nächstes Jahr wird dann wieder protestiert. 

Am Ende ist es doch, wie es ist: Man lebt hier in einer Anarchie. Jeder macht, was er will – und möchte dann auch noch vom Staat den Hintern gepudert bekommen.
MfG

Marco Wensauer
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#8
Ich könnte so viel Unrecht und Leid hier erzählen, aber es geziemt sich mir nicht.
Fakt ist, dass viele dort zu Unrecht verhaftet worden sind. Einfach nur, weil sie gesagt haben, dass sie teilweise ein besseres Leben haben möchten. Man sieht in vielen Videos, wie sie deshalb abgeführt worden sind.

Was die Randalierer machen ist natürlich nicht schön.
In Marokko gibt es nicht wie in Deutschland eine große Mittelschicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist sehr groß. Sind alles Punkte, die man bedenken muss.
Denke keineswegs, dass Allah unachtsam gegenüber dem ist, was die Unrechtbegehenden tun. Er zögert sie lediglich bis zu dem Tag hinaus, an dem die Blicke erstarren werden.

Ibrahim 14:42
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#9
(06.10.2025, 14:10)Enes schrieb: Ich könnte so viel Unrecht und Leid hier erzählen, aber es geziemt sich mir nicht.
Fakt ist, dass viele dort zu Unrecht verhaftet worden sind. Einfach nur, weil sie gesagt haben, dass sie teilweise ein besseres Leben haben möchten. Man sieht in vielen Videos, wie sie deshalb abgeführt worden sind.

Was die Randalierer machen ist natürlich nicht schön.
In Marokko gibt es nicht wie in Deutschland eine große Mittelschicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist sehr groß. Sind alles Punkte, die man bedenken muss.

Hallo Enes,

ich finde, es geziemt dir!
Danke schon mal für diese schöne Formulierung.

Ob du es allerdings hier schreiben magst, ist eine andere Sache. 
Ich sehe, wie sich junge Menschen engagieren & nur das fordern, was für „unsere“ gepamperten Jungen hier selbstverständlich ist. 

Das sind in der Tat zwei Welten, hier wissen ganz viele nicht, wie gut es uns geht. 

Die Jugend in Marokko muss vieles ausbaden, wofür die Ursachen ganz wo anders liegen. 

Ich habe auch schon einiges gesehen. 
ABER NATÜRLICH ist Gewalt NIE eine Lösung. 

Mein aufrichtiges Mitgefühl allen Betroffenen!

Gruß,
bulbulla
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#10
(06.10.2025, 14:10)Enes schrieb: Ich könnte so viel Unrecht und Leid hier erzählen, aber es geziemt sich mir nicht.
Fakt ist, dass viele dort zu Unrecht verhaftet worden sind. Einfach nur, weil sie gesagt haben, dass sie teilweise ein besseres Leben haben möchten. Man sieht in vielen Videos, wie sie deshalb abgeführt worden sind.

Was die Randalierer machen ist natürlich nicht schön.
In Marokko gibt es nicht wie in Deutschland eine große Mittelschicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist sehr groß. Sind alles Punkte, die man bedenken muss.

Hallo, 
Was man in den Videos sieht, möchte ich jetzt nicht beurteilen. Die Demonstrationen waren nicht angemeldet – das ist schon mal ein Punkt. Einige Organisatoren wurden verhaftet, das ist mir bekannt, kamen aber wieder frei.

Die Randalierer sind im Grunde dieselben, die den ganzen Tag nichts anderes tun. Sie haben keinen konkreten Anlass, nutzen aber jede Gelegenheit, um vermeintlich ungestraft Vandalismus und Plünderungen auszuleben. Wenn sich eine passende Gelegenheit ergibt, wird sie beim Schopfe gepackt und entsprechend ausgenutzt.

Die Mittelschicht in Marokko wächst – damit auch der Neid. Den ganzen Tag im Café zu sitzen, vor einem Glas Kaffee, das man tropfenweise trinkt, bringt nun mal kein Geld ein. Ebenso gering ist die Bereitschaft zu arbeiten, weil es entweder als unter der eigenen Würde gilt oder die Bezahlung nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Dazu könnte ich zahlreiche Beispiele nennen.
Unabhängig davon ist auch das familiäre Sozialsystem ein Faktor: Wer etwas verdient, muss an die Familie abgeben. Das ist nicht gerade förderlich, denn die Notwendigkeit zu arbeiten ist dadurch geringer – der Tisch ist gedeckt, ein Bett und ein Dach über dem Kopf gibt es obendrein.

Es gibt viele Punkte in Marokko, die hausgemachte Probleme sind. Es ist auffällig, dass selbst Marokkaner oft nicht daran interessiert sind, ihre Landsleute einzustellen, sondern vermehrt auf Ausländer zurückgreifen – gerade in Callcentern.

Theoretisch könnte man in Marokko sehr viel erreichen. Aber das Motto lautet: Think Big – und das bleibt am Ende oft nur ein Traum. Wenn man die einheimischen Nachrichten liest, bekommt man den Eindruck: Wir sind die Besten, die Klügsten, die Tollsten – wir können alles. Nun ja, auch hier könnte ich zahlreiche Beispiele nennen. Nur mal ein nettes Beispiel: In Marokko wird kein einfacher Wasserhahn produziert – gar keiner. Mit solchen Banalitäten hält man sich nicht auf. Stattdessen wird das Wasserstrahlbiegegerät entwickelt.
MfG

Marco Wensauer
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#11
Hallo.

Marco hat das ausgesprochen, was auch mir seit Jahrzehnten auffällt. 
Doch das ist nur eine Seite der Medaille: Es gibt auch eine andere, nämlich den ursprünglichen Grund der Proteste, nämlich den Versuch, ein altes, kaum funktionierendes System zu durchbrechen. 
In Marokko werden höhere Posten nicht nach Qualifikation vergeben, sondern nach Verwandtschaftsverhältnissen und Schmiergeldzahlungen. Das ist einer der Gründe, warum dort viele Menschen kaum Ahnung von dem haben, was sie hauptberuflich tun – und warum es einen riesigen, aufgeblähten Behördenapparat gibt, der nur selten notwendige Leistungen erbringt.

Ein Beispiel: 
Die Website des marokkanischen Landwirtschaftsministeriums funktioniert seit Jahresbeginn nicht mehr. Alle angeblich so wichtigen Abteilungen und Unterabteilungen sind online nicht erreichbar. Wichtige Funktionen und Vorgänge sind dadurch noch stärker eingeschränkt als ohnehin schon.
Ironischerweise gilt: Selbst wenn diese Abteilungen (online) erreichbar wären, erhält man in 90 % der Fälle ohnehin keine Antwort auf Anfragen.





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Mit besten Grüßen aus Errachidia,

Thomas



In Marokko ist alles möglich nur nichts schnell.
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#12
(08.10.2025, 06:57)Thomas Friedrich schrieb: Hallo.

Marco hat das ausgesprochen, was auch mir seit Jahrzehnten auffällt. 
Doch das ist nur eine Seite der Medaille: Es gibt auch eine andere, nämlich den ursprünglichen Grund der Proteste, nämlich den Versuch, ein altes, kaum funktionierendes System zu durchbrechen. 
In Marokko werden höhere Posten nicht nach Qualifikation vergeben, sondern nach Verwandtschaftsverhältnissen und Schmiergeldzahlungen. Das ist einer der Gründe, warum dort viele Menschen kaum Ahnung von dem haben, was sie hauptberuflich tun – und warum es einen riesigen, aufgeblähten Behördenapparat gibt, der nur selten notwendige Leistungen erbringt.

Ein Beispiel: 
Die Website des marokkanischen Landwirtschaftsministeriums funktioniert seit Jahresbeginn nicht mehr. Alle angeblich so wichtigen Abteilungen und Unterabteilungen sind online nicht erreichbar. Wichtige Funktionen und Vorgänge sind dadurch noch stärker eingeschränkt als ohnehin schon.
Ironischerweise gilt: Selbst wenn diese Abteilungen (online) erreichbar wären, erhält man in 90 % der Fälle ohnehin keine Antwort auf Anfragen.

Hallo, 
Dass hier vieles nicht funktioniert, betrifft nicht nur die Website des Landwirtschaftsministeriums. Selbst bei Banken, die Gebühren für die Kontoführung erheben, sitzen Angestellte, die praktisch keine Ahnung von ihrem eigenen System haben. Das ist kein Witz: Der Wechsel einer einfachen E-Mail-Adresse wird zum Drama in mehreren Akten, das mehrere Filialbesuche und viel Zeit erfordert. Ein Bankangestellter, der seit sieben Jahren dort arbeitet, wusste nicht, dass die E-Mail-Adresse an zwei verschiedenen Stellen hinterlegt ist – primär und sekundär.

Man ist gegen Korruption, man protestiert gegen Korruption. Ist man wirklich gegen Korruption? Nein, natürlich nicht! Wenn Korruption dem eigenen Vorteil dient, ist man nicht dagegen. Gerade jene aus der Altersgruppe „GenZ212“ sind es doch, die mit Mopeds fahren – 90 oder 110 ccm –, ohne Helm, mit dem Handy am Ohr, und bei Rot über die Ampel brettern. Da ist man natürlich einverstanden, wenn man mit 20 oder 50 Dirham davonkommt.

Gegen Korruption ist man nur dann, wenn man selbst keinen Vorteil daraus zieht – gegen jene Korruption, bei der große Summen im Spiel sind. So gesehen liegt sie außerhalb der eigenen Möglichkeiten, und deshalb ist man dagegen.

Einige Wochen zuvor wollte die Polizei damit beginnen, getunte Mopeds aus dem Verkehr zu ziehen. Es folgten Proteste gegen diese Maßnahme – man müsse den Nutzern Zeit geben, ihre Mopeds auf legale 50 ccm zurückzurüsten.

Nicht, weil es nicht genügend Krankenhäuser gäbe – die staatlichen Krankenhäuser sind überlaufen. Zum einen hat man dort den Vorteil einer teilweise kostenlosen Behandlung. Mit etwas Bakschisch erhält man zusätzlich die Vorteile einer schnelleren und effektiveren Versorgung. Dass aus Krankenhäusern auch medizinisches Material gestohlen und günstig an private Kliniken verkauft wird, ist ebenfalls ein Umstand, den man kaum bestreiten muss.

Ebenso ist es ein Problem für den Staat, dass er praktisch viel zu wenig Einnahmen aus Steuern erzielt. Die Steuern müssen gewissermaßen bei der Einfuhr erhoben werden, was natürlich sehr hohe Preise zur Folge hat. Wie im Beispiel mit dem Wasserhahn: Es ist schon ironisch, dass man einen Wasserhahn als banal ansieht – unter der Würde der Marokkaner –, und ihn dann aus China oder Europa importiert. So läuft es hier in vielen Fällen: Man lebt vor sich hin und träumt vom nächsten Milliardendeal.

Erwähnenswert ist auch die Automobilmarke Neo – angeblich 100 % marokkanisch. Ein Rohrkrepierer: Bisher habe ich drei Stück fahren sehen. In diesen Fahrzeugen steckt viel Handarbeit, wenig Automatisierung – aufgrund der hohen Preise für Roboter, die sich bei der geringen Stückzahl schlicht nicht lohnen. Einen Neo sollte man sich besser nur auf Bildern ansehen. In der Realität wirkt das Fahrzeug eher so, als hätte jemand versucht, im Hinterhof ein Auto zusammenzuschustern. Genau das spiegelt Marokko wider: Wir arbeiten irgendetwas – es muss qualitativ nicht gut sein, aber wir haben etwas gemacht und erwarten dafür unseren Lohn, als hätten wir ein meisterhaftes Unikat erschaffen.
MfG

Marco Wensauer
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#13
(08.10.2025, 08:34)Marc99 schrieb: Dass hier vieles nicht funktioniert, betrifft nicht nur die Website des Landwirtschaftsministeriums. Selbst bei Banken, die Gebühren für die Kontoführung erheben, sitzen Angestellte, die praktisch keine Ahnung von ihrem eigenen System haben. Das ist kein Witz: Der Wechsel einer einfachen E-Mail-Adresse wird zum Drama in mehreren Akten, das mehrere Filialbesuche und viel Zeit erfordert. Ein Bankangestellter, der seit sieben Jahren dort arbeitet, wusste nicht, dass die E-Mail-Adresse an zwei verschiedenen Stellen hinterlegt ist – primär und sekundär.

Man ist gegen Korruption, man protestiert gegen Korruption. Ist man wirklich gegen Korruption? Nein, natürlich nicht! Wenn Korruption dem eigenen Vorteil dient, ist man nicht dagegen. Gerade jene aus der Altersgruppe „GenZ212“ sind es doch, die mit Mopeds fahren – 90 oder 110 ccm –, ohne Helm, mit dem Handy am Ohr, und bei Rot über die Ampel brettern. Da ist man natürlich einverstanden, wenn man mit 20 oder 50 Dirham davonkommt.

Gegen Korruption ist man nur dann, wenn man selbst keinen Vorteil daraus zieht – gegen jene Korruption, bei der große Summen im Spiel sind. So gesehen liegt sie außerhalb der eigenen Möglichkeiten, und deshalb ist man dagegen.

Einige Wochen zuvor wollte die Polizei damit beginnen, getunte Mopeds aus dem Verkehr zu ziehen. Es folgten Proteste gegen diese Maßnahme – man müsse den Nutzern Zeit geben, ihre Mopeds auf legale 50 ccm zurückzurüsten.

Nicht, weil es nicht genügend Krankenhäuser gäbe – die staatlichen Krankenhäuser sind überlaufen. Zum einen hat man dort den Vorteil einer teilweise kostenlosen Behandlung. Mit etwas Bakschisch erhält man zusätzlich die Vorteile einer schnelleren und effektiveren Versorgung. Dass aus Krankenhäusern auch medizinisches Material gestohlen und günstig an private Kliniken verkauft wird, ist ebenfalls ein Umstand, den man kaum bestreiten muss.

Ebenso ist es ein Problem für den Staat, dass er praktisch viel zu wenig Einnahmen aus Steuern erzielt. Die Steuern müssen gewissermaßen bei der Einfuhr erhoben werden, was natürlich sehr hohe Preise zur Folge hat. Wie im Beispiel mit dem Wasserhahn: Es ist schon ironisch, dass man einen Wasserhahn als banal ansieht – unter der Würde der Marokkaner –, und ihn dann aus China oder Europa importiert. So läuft es hier in vielen Fällen: Man lebt vor sich hin und träumt vom nächsten Milliardendeal.

Erwähnenswert ist auch die Automobilmarke Neo – angeblich 100 % marokkanisch. Ein Rohrkrepierer: Bisher habe ich drei Stück fahren sehen. In diesen Fahrzeugen steckt viel Handarbeit, wenig Automatisierung – aufgrund der hohen Preise für Roboter, die sich bei der geringen Stückzahl schlicht nicht lohnen. Einen Neo sollte man sich besser nur auf Bildern ansehen. In der Realität wirkt das Fahrzeug eher so, als hätte jemand versucht, im Hinterhof ein Auto zusammenzuschustern. Genau das spiegelt Marokko wider: Wir arbeiten irgendetwas – es muss qualitativ nicht gut sein, aber wir haben etwas gemacht und erwarten dafür unseren Lohn, als hätten wir ein meisterhaftes Unikat erschaffen.

Nicht funktionierende Technik ist tatsächlich ein großes Problem in Marokko. Man hat die Bahnhöfe mit neuen Fahrscheinautomaten ausgestattet, aber man sieht so gut wie niemanden, der dort ein Ticket zu kaufen versucht. Ich versuchte es an drei verschiedenen Automaten. Jedesmal stürzte die Software ab und das Gerät zeigte "Hors service". Also musste ich mich doch in die Schlange vor dem Fahrkartenschalter einreihen.

Der Grund für die Probleme ist der eklatante Fachkräftemangel. Die universitäre Ausbildung in Marokko ist viel zu theorielastig und veraltet. Bis vor kurzem wurde an der Uni Rabat immer noch BASIC als Programmiersprache gelehrt. Das war in Europa so um 1980 aktuell. Die Spezialisten, die es wirklich können, haben im Ausland studiert. Allerdings kommen die nach dem Studium meistens nicht mehr nach Marokko zurück. 

Was die Mopeds angeht: Ich habe einen Bekannten in Marrakech, Sohn eines recht begüterten hohen Beamten. Der fährt ein Motorrad, eine dicke 750er Maschine, kein kleines Moped. Einen Führerschein hat er nicht, weil er keine Lust hatte, auf die Prüfung zu lernen. Warum auch? Er wurde schon mehrfach von der Polizei erwischt, aber jedesmal paukt ihn sein Vater dabei wieder raus. Da kann ich durchaus verstehen, dass man sich aufregt, wenn gegen die Fahrer von 50ccm Gefährten vorgeht. Man hängt die Kleinen, die Großen läßt man laufen.

Andererseits: Meine Schwägerin hatte einmal großen Ärger, weil sie während des Ramadans im Auto (!) einen Kaugummi im Mund hatte. Vom religiösen Standpunkt war das völlig in Ordnung, denn gerade bei Frauen gibt es viele Ausnahmen vom Fastengebot. Sie wollte das fällige Schmiergeld an den Polizisten nicht zahlen und bekam eine Vorladung vor Gericht. Dort wurde von ihr ein medizinisches Attest verlangt, dass sie an diesem Tag von der Fastenpflicht befreit war. Merkwürdigerweise scheinen solche Dinge aber niemanden aufzuregen.
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#14
Hallo Allerseits,

ich will nicht bestreiten, daß in Marokko vieles nicht funktioniert, aber darauf hinweisen, daß dies inzwischen in Deutschland doch genauso ist.

Aksayt
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#15
(Gestern, 10:17)Mike schrieb: Nicht funktionierende Technik ist tatsächlich ein großes Problem in Marokko. Man hat die Bahnhöfe mit neuen Fahrscheinautomaten ausgestattet, aber man sieht so gut wie niemanden, der dort ein Ticket zu kaufen versucht. Ich versuchte es an drei verschiedenen Automaten. Jedesmal stürzte die Software ab und das Gerät zeigte "Hors service". Also musste ich mich doch in die Schlange vor dem Fahrkartenschalter einreihen.

Hallo, 
Die Fahrscheinautomaten funktionieren seit ihrer Einführung nicht wirklich – es ist eher die Ausnahme, dass man dort ein Ticket bekommt. Es geht ja nicht darum, dass es keine Automaten gibt; vielmehr erfüllen sie eine repräsentative Funktion, mit dem Signal: Wir könnten …
 
Zitat:Der Grund für die Probleme ist der eklatante Fachkräftemangel. Die universitäre Ausbildung in Marokko ist viel zu theorielastig und veraltet. Bis vor kurzem wurde an der Uni Rabat immer noch BASIC als Programmiersprache gelehrt. Das war in Europa so um 1980 aktuell. Die Spezialisten, die es wirklich können, haben im Ausland studiert. Allerdings kommen die nach dem Studium meistens nicht mehr nach Marokko zurück.

Sollte man den marokkanischen Medien Glauben schenken, gäbe es mehr Fachkräfte als Einwohner in Marokko. Ein Bildungssystem kostet viel Geld, und die Universitäten sind staatlich finanziert. Dem Staat fehlt es an allen Ecken und Enden an Mitteln und er rotiert eigentlich nur noch, um irgendwie Einnahmen zu generieren. Im Großen und Ganzen hängt Marokko Jahrzehnte hinterher. Hier ist doch jeder eine Fachkraft: Wer den Lichtschalter fünfzigmal unfallfrei bedienen kann, gilt bereits als Elektriker.
 
Zitat:Was die Mopeds angeht: Ich habe einen Bekannten in Marrakech, Sohn eines recht begüterten hohen Beamten. Der fährt ein Motorrad, eine dicke 750er Maschine, kein kleines Moped. Einen Führerschein hat er nicht, weil er keine Lust hatte, auf die Prüfung zu lernen. Warum auch? Er wurde schon mehrfach von der Polizei erwischt, aber jedesmal paukt ihn sein Vater dabei wieder raus. Da kann ich durchaus verstehen, dass man sich aufregt, wenn gegen die Fahrer von 50ccm Gefährten vorgeht. Man hängt die Kleinen, die Großen läßt man laufen.

In Marokko kommt man selbst mit Mord davon, wenn das Portemonnaie groß genug ist. Der Fahrer mit der 750er repräsentiert Einzelfälle – das ist nicht die breite Masse. Im Übrigen fahren auch die 110-ccm- und 90-ccm-Maschinen ohne Führerschein. Es geht ja nicht gegen die 50-ccm-Klasse, sondern tatsächlich gegen alles, was größer als 50 ccm ist, dazu gehört eben auch die 750er. Genau das ist die Argumentation: Wir haben Tausende von 110-ccm-Fahrern, die täglich Hunderte von Unfällen verursachen, und beziehen uns dann auf Einzelfälle. Hier zeigen sich bereits die ersten Widersprüche der GenZ.
 
Zitat:Andererseits: Meine Schwägerin hatte einmal großen Ärger, weil sie während des Ramadans im Auto (!) einen Kaugummi im Mund hatte. Vom religiösen Standpunkt war das völlig in Ordnung, denn gerade bei Frauen gibt es viele Ausnahmen vom Fastengebot. Sie wollte das fällige Schmiergeld an den Polizisten nicht zahlen und bekam eine Vorladung vor Gericht. Dort wurde von ihr ein medizinisches Attest verlangt, dass sie an diesem Tag von der Fastenpflicht befreit war. Merkwürdigerweise scheinen solche Dinge aber niemanden aufzuregen.

Während des Ramadans herrschen pures Chaos und Anarchie. Alles ist erlaubt außer Essen und Trinken. Hier gilt das Motto: Bloß nicht erwischen lassen. Es ist nun einmal gesetzlich verankert, dass öffentliches Essen und Trinken verboten ist. Und nun ja in dieser Zeit ist es das einzige Gesetz, das wirklich konsequent Anwendung findet.
 
Im Großen und Ganzen lässt sich vieles auf den Fachkräftemangel schieben. Dennoch ist es so: Hier wird das heutige Problem gerne auf morgen verschoben, was zu einem Problemstau führt, der irgendwann so groß wird, dass er nicht mehr zu bewältigen ist. Es gibt hier sogar einen Begriff dafür: System D. Dieses Prinzip findet Anwendung von ganz oben bis ganz unten. Es ist ja nicht so, dass man Probleme vermeidet nein, man schafft sich sogar bewusst neue, selbst wenn sie noch so unlogisch erscheinen.

Ein gutes Beispiel: die Anschaffung eines Autos. Es wird ein Diesel gekauft, obwohl man mehrfach darauf hingewiesen wird, dass der Dieselpartikelfilter im Stadtverkehr zum Problem wird und teuer. Das Argument für Diesel lautet: An der Tankstelle ist er billiger, und das Problem mit dem Partikelfilter kommt ja erst später.
Mittlerweile denken die Hersteller für den Kunden mit und bieten teilweise gar keine Dieselmodelle mehr an um die Garantiekosten zu senken.

Vor Jahren wurde in Marrakesch ein Tunnel zur Verkehrsentlastung gebaut, so richtig funktioniert er nicht. Denn entlastet wird lediglich die Nebenstrecke, nicht aber die Hauptroute. Und aufgrund dieser negativen Erfahrung man glaubt es kaum wird aktuell ein zweiter Tunnel an anderer Stelle gebaut.
Ich habe mir die Baustelle angesehen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Die Strecke, die jetzt schon völlig überlastet ist, wird durch diesen Tunnel überhaupt nicht entlastet, nicht einmal ansatzweise.
Wenn der Tunnel fertig ist, soll der neue Busbahnhof eröffnet werden, jener Busbahnhof, der bereits seit 2020 fertiggestellt ist. Über die heute schon überlastete Straße soll dann der Großteil des Zubringerverkehrs und der Busse rollen.
Ich möchte anmerken, dass ich kein Fachmann für Verkehrsinfrastruktur bin – obwohl ich schon mehr als fünfzigmal einen Stadtplan unfallfrei gefaltet habe. Aber hier sitzen studierte Fachkräfte für Infrastruktur und planen so einen Tunnel? Da stellt man eigentlich keine Fragen mehr.
Genau so läuft es in Marokko: Der Auftrag wurde erfüllt gut, auch wenn es nicht funktioniert hat, habe ich etwas geleistet und möchte dafür fürstlich entlohnt werden.
MfG

Marco Wensauer
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#16
Dies ist aus dem newsletter von Elisabeth Koblitz von heute:

"Autos brennen, Steine fliegen: Die Gen Z in Marokko protestiert derzeit landesweit gegen die Regierung.
Auslöser der Protestwelle im September war der Tod von acht Frauen in Agadir, die bei Kaiserschnitt-Eingriffen gestorben sind – mutmaßlich, weil sie nicht ausreichend versorgt werden konnten. Den jungen Menschen geht es vor allem um die Gesundheits- und Bildungspolitik, aber auch um die wachsende soziale Ungleichheit im Land. Das Gesundheitssystem ist überlastet, Schulen sind marode, und die Zahl der Analphabet:innen unter jungen Menschen steigt.
Das viel kritisierte Gesundheitswesen ist für die Mehrheit der Bevölkerung unzureichend. Auf 1.000 Einwohner:innen kommen in Marokko nur 0,73 Ärztinnen und Ärzte. (Zum Vergleich: weltweit liegt der Wert bei 1,71, in der EU bei 4,12.)
Viele Marokkaner:innen werfen ihrer Regierung vor, das Land in zwei ungleiche Teile zu spalten. Während die Küstenregion zwischen Tanger im Norden und Marrakesch im Süden dank neuer Autobahnen, Schnellzüge und Energieinvestitionen einen deutlichen Aufschwung erlebt, bleibt das Landesinnere weitgehend zurück.
Seit September haben sich die Proteste ausgeweitet und erfassen mittlerweile das gesamte Land. Die Lage eskalierte mancherorts: Drei Demonstranten wurden von der Polizei erschossen – doch die Proteste gehen weiter.
Auf den Straßen sind vor allem junge Menschen. Sie nennen sich „Gen Z 212“.
Zur Erklärung: Die Zahl 212 steht für die internationale Telefonvorwahl Marokkos. „Gen Z“ bezeichnet die Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen etwa 15 und 30 Jahren.
Die Teilnehmer:innen rufen Slogans wie „Das Volk will Bildung“ oder „Gesundheit vor Fußball“.
Letzteres spielt auf die Fußball-WM 2030 an, die in Portugal, Spanien und eben auch in Marokko stattfinden soll. Milliarden fließen in Stadien und Infrastruktur – Geld, das viele lieber in Schulen und Krankenhäusern sehen würden.
Nach den jüngsten Protesten stellten sich 60 bekannte Persönlichkeiten hinter die Demonstrierenden. In einem offenen Brief fordern sie Marokkos König auf, Reformen einzuleiten und die Korruption zu bekämpfen.
„Die Menschen in Marokko leiden“, schreiben die Unterzeichner:innen – darunter Intellektuelle, Künstler:innen und Menschenrechtsaktivist:innen.
Doch nicht nur in Marokko, sondern auch in anderen Ländern erhebt sich die Gen Z: In Peru, auf den Philippinen oder in Nepal. Dort führte die Entscheidung der Regierung, den Zugang zu sozialen Medien zu blockieren, zu massiven Protesten – und schließlich zum Sturz der Regierung. Auch in Bangladesch trat die Premierministerin zurück. In Madagaskar richten sich die Demonstrationen gegen die mächtige Elite.
Die Proteste der Gen Z finden an vielen Orten statt, oft tausende Kilometer voneinander entfernt. Was sie eint, ist ihre Forderung nach politischen Reformen, dem Ende von Korruption, sozialer Ungleichheit und Machtmissbrauch. Sie wollen Veränderung.
„Was wir hier sehen, ist die Spitze des Eisbergs. Das sind Bewegungen und Unzufriedenheiten, die schon viel länger bestehen. Oft sind es einzelne Ereignisse, die aus kleineren Bewegungen Massenbewegungen machen“, so die Historikerin Franziska Zaugg im SRF-Fernsehen.
Organisiert werden die Proteste vor allem über Social Media – und viele lassen sich von Gleichaltrigen in anderen Ländern inspirieren. Sie eint der Frust über die bestehenden Systeme und ihre Regierungen.
„Wenn in einem Land diese Bewegungen stattfinden, sehen das andere Leute in den sozialen Medien. So können sie über bereits bestehende Kanäle und Symbole ihre eigenen Proteste starten“, sagt die Politologin Michelle Beyeler.
Die verschiedenen Bewegungen nutzen den Hashtag #GenZ und fast überall dasselbe Symbol: eine Piratenflagge aus der japanischen Animeserie One Piece. In der Serie will ein Junge namens Ruffy Piratenkönig werden und entwickelt sich nach und nach zu einem Freiheitskämpfer gegen die mächtige Elite.
Die Gen Z ist also im Kampf gegen die Mächtigen ihrer Länder vernetzt und geeint. Ob und inwieweit die Proteste in den jeweiligen Staaten erfolgreich sind, hängt jedoch stark von lokalen Faktoren ab."
Du musst nicht immer alles glauben was du denkst.
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