Literaturtipps, Erzählungen, Ereignisse...
#22
Der Elefant im Dunkeln
von Faouzi Skali

Man fragte Joha, weshalb die Menschen unaufhörlich debattierten, weshalb sie in ewigen Streit verfielen, jeder von ihnen überzeugt, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein. Joha antwortete mit einer Geschichte - der Geschichte vom Elefanten im Dunkeln.

   

Es geschah einst, dass man eine Gruppe Gelehrter in eine finstere Kammer führte, in deren Mitte sich ein Elefant befand. Man forderte sie auf, durch bloßes Tasten zu erraten, was sich in dem Raum befand. Der Erste, der seine Hand auf den breiten Rücken des Tieres legte, schloss sogleich, es müsse sich um ein prächtiges Baldachin handeln. Ein Zweiter, der zufällig die geschmeidige, bewegliche Rüsselspitze ergriff, verkündete überzeugt, ein Rohr liege vor ihm. Ein Dritter, der gegen die mächtigen Säulen von Beinen stieß, erklärte, es handle sich ohne Zweifel um lederne Pfeiler. So entfaltete jeder sein Argument, verteidigte seine These mit gelehrter Akribie, ohne zu ahnen, dass in der Summe aller Wahrnehmungen die Wahrheit verborgen lag.

Da brachte Joha ein kleines Licht in den dunklen Raum. Und siehe da – keiner der Gelehrten hatte sich gänzlich geirrt, doch ebenso wenig hatte einer die ganze Wahrheit erfasst. „Euer Irrtum,“ sprach Joha, „liegt nicht darin, dass ihr Unrecht habt, sondern darin, dass jeder von euch seine partielle Wahrnehmung für das Ganze hält. Jeder absolutiert, was er durch seine eigene begrenzte Perspektive erfährt – oder, wenn man so will, seine eigene ‚Spezialisierung‘.“

Diese Erzählung, die sich in verschiedenen Fassungen in Indien, China, Persien und der arabischen Welt findet, wurde auch von dem großen Mystiker Dschalal ad-Din Rûmî im Mathnawî, seinem poetischen Vermächtnis aus dem 13. Jahrhundert, überliefert.

Baudelaire bemerkte einst, dass jede menschliche Verständigung aus einem fundamentalen Missverständnis hervorgehe. Rûmî fügt hinzu, dass dieses Missverständnis nicht nur die gewöhnliche Rede betrifft, sondern auch die philosophischen Systeme, die ideologischen Entwürfe, die religiösen Lehren und selbst die Wissenschaften. Sie alle tragen auf ihre Weise zu einer vielstimmigen Kakophonie bei.

Denn der Mensch kann nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit erkennen und hält ihn für das Ganze. Weisheit jedoch beginnt dort, wo man erkennt, dass Wahrheit in ihrer höchsten Form sich in unzähligen Gestalten offenbart und dass jegliche Suche nach ihr ein fortwährendes Ausweiten unseres Verständnisses bedeutet.

Es gibt noch einen anderen Weg – nämlich nicht das Fragmentarische zu zergliedern, sondern das Ganze in seiner Einheit zu erfassen. Jenseits der sprachlichen und gedanklichen Konstrukte, in der Unmittelbarkeit einer tiefen, intuitiven Erfahrung. Es genügt, eine Kerze zu entzünden.


Variante: 
Die Namen der Traube

Ein Mann übergab vier Menschen eine goldene Münze.
Der Erste sprach: „Lasst uns sogleich Engur kaufen!“
Der Zweite, ein Araber, widersprach: „Nein! Nicht Engur – ich verlange nach Ineb!“
Der Dritte, ein Grieche, protestierte: „Wahrlich, ich hätte lieber Istaphil!“
Der Vierte, ein Türke, rief aus: „Ich will Uzum!“

Kaum war das Wort gefallen, brach ein hitziger Streit aus. Jeder beharrte auf seiner Forderung, jeder war überzeugt, etwas anderes als die anderen zu verlangen, denn keiner verstand, dass sie allesamt nach ein und derselben Frucht verlangten.
Hätte sich ein Weiser unter ihnen befunden, so hätte er gesprochen: „Ihr streitet über Worte, doch im Kern seid ihr euch längst einig. Euer Geld reicht aus, um jeden von euch zufriedenzustellen – denn alle vier verlangt nach demselben: nach der Traube.“

Diese Erzählung, die ebenfalls aus Rûmîs Mathnawî stammt, ist eine Variation der Geschichte vom Elefanten im Dunkeln. Die Wurzel der Missverständnisse liegt nicht selten in der Sprache selbst: Wir geben ein und derselben Sache verschiedene Namen, und sobald wir ein Wort hören, meinen wir, es trenne uns von unserem Gegenüber. Doch sobald die Wirklichkeit sich zeigt – oder noch mehr, sobald sie geschmeckt wird –, löst sich der Zwist in Nichts auf.
Die große Sufidichterin Râbiʿa al-ʿAdawiyya sprach: „Wer kostet, der weiß. Wer nur beschreibt, der entfernt sich von dem, was er zu schildern sucht.“
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RE: Literaturtipps, Erzählungen, Ereignisse... - von Maghribi - 05.02.2025, 16:34

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